Fernsehen und Hans-Sachs-Haus
Wir fingen Fernseh-Sender Lopik auf
Gelsenkirchener Morgenpost, 16.03.1952
MORGENPOST war beim ersten Television-Versuch dabei – 75 Meter über dem Meer
ge Vor den Schaufenstern der Gelsenkirchener Rundfunkgeschäfte drücken sich selbst seriöse Herren die Nasen platt; wie Kinder vor den Spielzeugläden zur Weihnachtszeit. Da stehen nämlich die ersten Fernsehgeräte, und es gibt auch in unserer Stadt nicht wenige Leute, die schon jetzt mit dem Rechenstift kalkulieren, wann und wie sie sich solch ein Zauberding anschaffen können. Immerhin wird es aber noch bis zum kommenden Herbst dauern, bevor die Station Langenberg auch unseren Raum mit einem normalen Fernsehprogramm versorgt. Trotzdem hat schon in diesen Tagen der Gelsenkirchener Radiohändler Richter versucht, die ersten Impulse eines holländischen Senders aufzufangen. Die MORGENPOST war als einzige Zeitung dabei, als dieser Fernsehstart für unsere Stadt über die Bühne ging.
Genau 5 Minuten brauchten wir, um die 232 Stufen zu bewältigen, die zu Gelsenkirchens höchstem Bauwerk, dem Hans-Sachs-Haus-Turm, führen. Vorher hatte sich schon Radiohändler Richter von der Bahnhofstraße mit seinen drei Assistenten abgemüht, um das schwere Fernsehgerät, die Spezialantenne und Zuleitungskabel über die 232-Stufen-Strecke zu schaffen. Unten lag die Stadt mit ihren 1000 Neonlichtern und unzähligen beleuchteten Fenstern. „Ich glaube, da oben wird ein Kurzwellensender für den Polizeifunk montiert", sagte uns ein Neubergmann aus der zweiten Etage des Hans-Sachs-Hauses. An Fernsehen dachte er nicht.
„Lopik" wird angepeilt
Als wir auf dem oberen, freiliegenden Plateau ankommen, sind die
Vorbereitungen schon fast abgeschlossen. Die holländische
Richtantenne, die wie das Spezialtrapez der Camilla-Meyer-Truppe
aussieht, wird von einem jungen Mann bedient. Er dreht sie einigemal
um die eigene Achse, dann erscheinen die ersten Impulse auf dem
Bildschirm. Der holländische Sender Lopik ist aufgefangen. In
verschiedenen Formen erscheinen Eichbilder, damit die Geräte
eingestellt werden können. Wir lesen: „Lopik — neederlandske
television". Dann beginnt das Programm. Niemand unter uns kann die
Spannung verbergen - 75 Meter über der hastenden Stadt wird das
erste Fernsehprogramm empfangen!
Modenschau aus Utrecht
Eine hübsche Ansagerin kündigt eine Modenschau an. Ihre
Großaufnahme ist so exakt, daß man sogar eine kleine Goldplombe an
ihrem vorderen Schneidezahn feststellen kann. Eine kleine
Tanzkapelle untermalt die Vorführung der Modelle. Der Ton kommt so
klar, als stände der Sender wenige Kilometer von unserem Empfangsort.
Dabei beträgt die Entfernung nach Lopik 150 Kilometer.
Der Modenzauber wird von einer Tagesschau abgelöst: Bilder aus Indonesien - Empfang bei Königin Juliana — Werftarbeiten in Rotterdam: 20 Minuten dauert diese Miniaturwochenschau. Der Fernseher hat, trotz des kleinen Bildschirmes, den gleichen Eindruck wie vor der Großleinwand eines Lichtspielhauses.
Wetterbericht — optisch gesehen
Natürlich fehlt auch der Wetterbericht nicht. Eine Karte von Europa erscheint. Der
Sprecher markiert mit Kreide die einzelnen Hoch- und Tiefdruckgebiete zwischen dem
Atlantik und dem Ural. Er erläutert, wie sich diese Gebiete verschieben können und in
der Lage sind, das Wetter über Holland zu beeinflussen. Der Fernsehteilnehmer erfährt
jetzt plastisch und wissenschaftlich, warum es morgen Regen oder Sonnenschein geben
kann. - Dann steht ein biologischer Fachvortrag auf dem Programm. Es wird über das Leben
der Schildkröten gesprochen. Dieser Vortrag wird so lebendig gestaltet, daß selbst der Nicht-Holländer, der die Erläuterungen in der fremden
Sprache oft nur raten kann, keine Schwierigkeiten hat, den
Gesamtinhalt zu verstehen.
Zwei Sendungen in der Woche
Nur zweimal in der Woche sendet Lopik. Das ist verständlich,
wenn man hört, daß die Produktion einer Fernsehminute 700 Mark
kostet. Aber dieser Sender hat eine sehr starke Frequenz, und die
Fachleute wissen, daß besonders im deutschen Niederrheingebiet das
Programm regelmäßig aufgefangen wird. Daß man Lopik aber sogar in
Gelsenkirchen empfangen würde, hatte man bisher für unmöglich
gehalten. Wer die zwei Fernsehstunden auf dem Hans-Sachs-Haus-Turm
erlebt hat, der wird verstehen, daß Fernsehen zu einer Passion
werden kann. Das schien auch das alte Mütterchen zu ahnen, die dem
Rundfunkhändler vor einigen Tagen erklärte: "Fernsehen ist teuer,
sagen Sie!? Ich werde unser altes Klavier und meinen Rundfunkapparat
verkaufen und mir dann so einen Kasten anschaffen!" Wir müssen
gestehen: Die Oma wird ihren Totalausverkauf wahrscheinlich nicht
bereuen!